Zeitgeschichte 1945–1948 (6)

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Lagerleben auf der Wülzburg

Mahnmal an die Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg

1946 begann die organisierte Massenvertreibung der über 3 Millionen Deutschen aus dem Sudetenland. Hinzu kamen die Flüchtlinge und Vertriebenen aus Schlesien, Ostpreußen, Pommern usw. (zusammen 14 Millionen Menschen, von denen 2 Millionen ums Leben kamen). So wurden Hunderte von Lagern in Restdeutschland errichtet, um von diesen wiederum die gewaltigen Menschenströme der Flüchtlinge und Vertriebenen zu lenken. Eines davon war das Landkreislager auf der Wülzburg oberhalb der Stadt Weißenburg, von dem man die Menschen auf die einzelnen Gemeinden – meist Dörfer – verteilte in der Hoffnung, es bald wieder auflösen zu können, weil die Flüchtlinge in ihre Heimatgebiete zurückkehren könnten. Dies stellte sich jedoch als Fehleinschätzung heraus.

Meist waren die Menschen (überwiegend Mütter mit Kindern und alte Leute, unterdurchschnittlich wenig Männer im arbeitsfähigen Alter) nur einige Wochen im Lager. Aber so war auf der Wülzburg ein ständiges Kommen und Gehen, und es lebten gelegentlich über 1000 Menschen gleichzeitig hier. Insgesamt sind wohl 7.500 bis 8.000 Personen durchgeschleust worden. Die hygienischen Verhältnisse waren entsprechend schlecht. Wanzenplagen waren die Folge. Es gab zu wenig Wasser und keine Kläranlage. So brach viermal Typhus aus und zweimal wurde über das Lager eine Quarantäne verhängt. Der Krankenstand war überdurchschnittlich hoch (bis zu 30 %).

Die Unterbringung so vieler Leute auf so engem Raum verlangte nicht nur eine Lagerleitung mit einem Mitarbeiterstab, sondern auch ständige Kontrollen, dass die Hausordnung auch beachtet wurde. Die Lagerorganisation bestand aus dem Leiter, Heinz Gabrisch, selbst Vertriebener aus Oberschlesien, einer Lagerküche, mehreren Handwerkern sowie einem Sanitätsbereich mit einem Lagerarzt, Dr. Karl Platzek, zwei Krankenschwestern und einem Sanitäter.

Die Heimatlosen waren meist in Gemeinschaftssälen untergebracht, oft nur mit einer Wolldecke von den Nachbarn getrennt, oder in Räumen mit 15 – 45 Personen in Stockbetten. Es gab praktisch keine Privatsphäre. Jung und Alt, Säuglinge und Kränkelnde, zerrissene Familien und Einzelgänger wohnten auf engstem Raum nebeneinander. Da waren Konflikte unvermeidbar, z. B. beim Beheizen der Öfen, für die das Brennmaterial im Wald beschafft werden musste, oder dem Saubermachen. Es fehlte an Schränken und Abstellflächen für die wenigen Habseligkeiten, die einem von den Vertreiberstaaten gelassen wurden (z. B. durften die Sudentendeutschen höchsten 50 kg pro Person mitnehmen). Ein großes Problem war auch das Wäschewaschen. Es gab ja weder selbsttätige Waschmittel noch Waschmaschinen. Das Trocknen und Bügeln war äußerst schwierig, Wäschediebstahl keine Seltenheit. Für viele Menschen, vor allem für alte, waren die Schikanen vor und die Strapazen bei der Vertreibung (z. B. im Winter in unbeheizten Viehwagen) zu groß. Sie sind dann im Lager – neben einem – gestorben.

Ein weiteres großes Problem war die Verpflegung dieser Mittellosen. Der Tagessatz lag bei 1.276 kcal – bestehend aus meist minderwertigen Lebensmitteln. Das hieß Hunger, was vor allem für die Kleinkinder ein ganz großes Problem war. Betteln und Gelegenheitsarbeiten bei den Bauern der Umgebung für ein paar Kartoffeln waren der Alltag. Die Lebensmittelkarten mussten für die Lagerküche abgegeben werden, von der man dann kostenlos verpflegt wurde. Diese wurde jedoch von allen als schlecht bezeichnet. Meist gab es nur Suppen.

Neben den Hunger trat die seelische Belastung: Wo ist mein Mann, mein Sohn? Wo finde ich eine Wohnung, eine Arbeit? Der Winter steht vor der Tür. Mein Kind ist krank und unterernährt. Woher ein Paar Schuhe für mein Kind? So kamen bei vielen Menschen neben dem Trauma des Heimatverlustes und gesellschaftlichen und beruflichen Abstiegs auch Depressionen dazu: Der Bürgermeister war Hilfsarbeiter, die Dozentin an der Lehrerinnenbildungsanstalt war Küchenhilfe, der Unternehmer war Steinbrucharbeiter usw. Nur wer Nichtraucher war, hatte bis zur Währungsreform 1948 die Möglichkeit, etwas gegen Zigaretten einzutauschen. Wertsachen oder Reichsmark hatte man selbst nicht mehr.

Volksschule auf der Wülzburg

Erst allmählich besserten sich die Verhältnisse. Allerdings stieg auch die Verweildauer auf der Wülzburg ständig. 1948 hatte sich die Zahl der Lagerbewohner auf etwa 500 eingependelt. Jetzt war etwas mehr Platz, und es konnte eine zweiklassige Volksschule eingerichtet werden. Leiter war der spätere Rektor Emanuel Demel. Es wurden regelmäßig katholische und evangelische Gottesdienste in der Burgkapelle angeboten oder Erstkommunion gefeiert.

Das gesellschaftliche Leben entwickelte sich zusehends, je länger die Leute auf der Wülzburg bleiben mussten. So gab es Fußball- und Handballspiele, Chorsingen, Nikolausfeiern, Faschingsbälle, Sonnwendfeiern, Konzerte oder Filmvorführungen. Für die Alten wurde ein Altersheim eingerichtet, und später gab es sogar einen Wasch- und einen Baderaum, nicht üppig, aber schon ein gewaltiger Fortschritt, bis im Oktober 1952 das Lager aufgelöst werden konnte.

Durch das Lager Wülzburg hat der damalige Landkreis Weißenburg überdurchschnittlich viele Flüchtlinge und Heimatvertriebene aufgenommen, sie machten etwa 24 % der Bevölkerung aus. Diese gewaltige Zunahme hatte riesige Wohnungs- und soziale Probleme zur Folge. Es kamen aber meist gut ausgebildete, arbeitswillige, fleißige Menschen, von denen die Mehrzahl von sich aus versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. So stellten sich verhältnismäßig rasch große wirtschaftliche Erfolge ein, die bis heute die Region mitprägen. Und auch der kulturelle, gesellschaftliche und bildungspolitische Einfluss ist nicht zu unterschätzen.

Siehe auch

Quellen:

  • KÖNIG, Walter: Flüchtlingslager Wülzburg. Ankunft und Integration der Heimatvertriebenen in Weißenburg, Weißenburg 1990
  • FRANK, Rainer: Die Heimatvertriebenen im Landkreis Weißenburg-Gunzenhausen, Weißenburg 1991
  • Berichte und Gespräche von Emanuel und Gerold Demel, Herbert Müller und Otto Stiepak (alle aus dem Sudetenland) und Josef Reinfuss (aus Alt Sandez, Südpolen) mit Ulf Beier.